Saturday, July 07, 2007

 

* FRANKREICH - SUCHE NACH GERECHTIGKEIT

16. Teil in der Serie
(siehe 4. Juli; Anfang unter: Februar 2007)
2.6. Die problematische Rolle der Schwurgerichte
Bis vor kurzem saßen die Schwurgerichte, die aus drei Berufsrichtern (dem ‘Gericht’) und einer Jury aus neun bis zwölf französischen Staatsbürgern zusammengesetzt waren, über relativ schwere Fälle zu Gericht, die ihnen von der chambre d’accusation zugewiesen wurden. Hierbei handelt es sich um eine Gerichtskammer, die sowohl über den Status eines Falls entscheidet, d.h. ob es zum Verfahren kommt, und wenn ja, welches Gericht darüber verhandeln soll. Während gegen die Entscheidungen des Strafgerichts – das geringfügigere Delikte verhandelt und ohne Geschworene tagt - ein Berufungsrecht existierte, gab es gegen Entscheidungen der Geschworenengerichte kein solches Recht. Es war somit Gericht in erster und letzter Instanz. (Das einzige Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Geschworenengerichts war ein pourvoi en cassation an die Strafkammer des Kassationsgerichts. Diese konnte jedoch nur Rechts- und Verfahrensfragen aufgreifen, nicht aber die Tatsachen analysieren, was die Möglichkeiten einer solchen Berufung stark einschränkte.)

Die generelle Begründung für das Fehlen eines vollständigen Berufungsmechanismus lag in der Überzeugung, dass gegen den Spruch einer Jury keine Berufung zulässig sei, weil das Volk der Souverän und als solcher unfehlbar sei. Der Ausschluss der Berufung außer zu technischen Fragen – etwa Verfahrensfehlern, stellte eine eindeutige und elementare Verletzung des Völkerrechts dar. Artikel 14(5) des IPbpR legt fest:
“Jeder, der wegen einer strafbaren Handlung verurteilt worden ist, hat das Recht, das Urteil entsprechend dem Gesetz durch ein höheres Gericht nachprüfen zu lassen.” 34

Noch verschärft wurde das Problem im Fall der “Anti-Terrorismus”-Gesetzgebung. Gesetz Nr. 86-1020 vom 9. September 1986 “über die Bekämpfung des Terrorismus” bestimmte, dass “Terrorismus”-Fälle vor einem speziellen Schöffengericht in Paris zu verhandeln sei, das ohne Jury tagt. Amnesty International war nicht nur darüber besorgt, dass “Terrorismus”-Verdächtige automatische vor das spezielle Schöffengericht gestellt wurden und somit kein Recht auf Berufung besaßen, sondern auch darüber, dass die Opfer oder die Familien der Opfer schwerer Verbrechen oder mutmaßlich schwerer Verbrechen, deren Fälle von Geschworenengerichten verhandelt wurden, kein Berufungsrecht besaßen.

Am 1. Januar 2001 wurde das Gesetz Nr. 2000-516 vom 15. Juni 2000 über die “Unschuldsvermutung” als Teil einer allgemeinen, umfassenden Justizreform in Frankreich eingeführt. Das Gesetz führte einen Berufungsmechanismus gegen Schöffengerichte ein, um das französische Recht in Einklang mit der EMRK zu bringen. Dem Gesetz zufolge konnte in einem Fall, über den ein Schöffengericht entschieden hat, bei einem anderen Schöffengericht Berufung eingelegt bzw. Wiederverhandlung beantragt werden, das dann in der Zusammensetzung von drei Richtern und zwölf statt neun Geschworenen verhandelte. Dieses Gericht musste die Zeugen in einer mündlichen Verhandlung noch einmal vorladen.

Diese Reform der Schöffengerichte war zwar willkommen und notwendig, aber nicht ausreichend, um die Bedenken von Amnesty International bezüglich der faktischen Straflosigkeit von Beamten mit Polizeibefugnissen zu zerstreuen, die von Schöffengerichten in erster Instanz freigesprochen wurden. Denn das Gesetz sah im Fall von Freisprüchen keine Berufung vor, wie sonst bei anderen Gerichten möglich. Dies bedeutete, dass gegen die äußerst umstrittenen Freisprüche in besonders schweren Fällen wie denen von Todor Bogdanovic (3.1.) oder Etienne Leborgne (3.2.) keine Berufung eingelegt werden konnte. Dies war um so mehr zu bedauern, weil die chambres d’accusation solche Fälle in der Tendenz ohnehin nur dann an Schöffengerichte überwiesen, in denen schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigten, dass ein Beamter mit Polizeibefugnissen gegen das Gesetz verstoßen habe.

Im Jahr 2002 erhielten die Staatsanwälte zwar das Recht, gegen Freisprüche Berufung einzulegen, nicht aber die Zivilparteien. Bei diesem Stand der Dinge hängt die Möglichkeit der Berufung in solchen Fällen einzig vom Willen der Staatsanwälte (avocats généraux) ab, die bislang oft eine zweideutige Rolle gespielt haben. Der Fall von Riad Hamlaoui (3.5.) illustriert die trotz Reform anhaltenden Bedenken von Amnesty International über die Rolle der Staatsanwälte in solchen Fällen und über den Ausschluss der Zivilparteien von der Möglichkeit, gegen umstrittene Urteile von Schöffengerichten Berufung einzulegen.

34 Eine ähnliche Bestimmung findet sich auch in Artikel 2 des 7. Protokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention.

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