Sunday, June 17, 2007

 

FRANKREICH - SUCHE NACH GERECHTIGKEIT

13. Teil in der Serie
(siehe 6. Mai; Anfang unter: Februar 2007)
2.3. Weite Vollmachten des Staatsanwalts
In den ganzen Jahren hat Amnesty International Bedenken an den weiten Vollmachten des Staatsanwalts geübt, wenn er darüber entscheidet, ob Anzeigen gegen Polizeibeamte wegen Menschenrechtsverletzungen weiter verfolgt werden, sowie an seinem Widerwillen in einer Reihe von Fällen, eine Strafverfolgung einzuleiten. Durch internationale Abkommen geschaffene Kontrollgremien haben sich ebenfalls über das Verfahren zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen durch Beamte mit Polizeibefugnissen besorgt gezeigt. Die 1997 vom UN-Menschenrechtsausschuss bzw. 1998 vom CAT (Anti-Folter-Komitee) geäußerte Kritik bzw. Empfehlungen sind noch immer aktuell (seither wurde Frankreich noch nicht wieder vorgeladen).

Der Menschenrechtsausschuss äußerte 1997 Kritik am “existierenden Verfahren zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen durch Polizisten. Er ist auch besorgt, dass die Staatsanwälte die Gesetze zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen nur widerwillig oder gar nicht anwenden, wenn sie sich gegen Beamte mit Polizeibefugnissen richtet.” 26 1998 äußerte das CAT bei seiner Befassung mit dem zweiten periodischen Bericht Frankreichs über die Umsetzung des “UN-Abkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung oder Strafen” Kritik am Prinzip der “Opportunität einer Strafverfolgung” (“l’opportunité des poursuites”), das mit den Worten des CAT den Staatsanwälten bei ihrer Entscheidung freie Hand lasse, “für Folterungen verantwortliche Personen nicht nur nicht zu verfolgen, sondern auch keine Untersuchung anzuordnen; dies steht klar im Widerspruch zu den Bestimmungen des Artikels 12 des Abkommens ”. Das CAT forderte den Vertragsstaat auf, “Vorwürfen missbräuchlicher Gewaltanwendung durch Angehörige der Polizeikräfte äußerste Aufmerksamkeit zu schenken, mit dem Ziel, unparteiliche Untersuchungen zu veranlassen und in erwiesenen Fällen angemessene Strafen zu verhängen.” Es forderte Frankeich auf, das gegenwärtige Prinzip der “Opportunität einer Strafverfolgung” abzuschaffen und damit “alle Zweifel zu beseitigen, dass die zuständigen Stellen verpflichtet sind, in allen Fällen, in denen hinreichende Gründe für die Annahme vorliegen, dass eine Folterhandlung begangen wurde, systematisch und aus eigener Initiative heraus unparteiische Untersuchungen einzuleiten…”. 27 Trotzdem gilt das Prinzip der “Opportunität einer Strafverfolgung” noch immer.

In einem noch immer vor Gericht anhängigen Fall, der stellvertretend für viele andere steht, hat Karim Latifi (5.5.) beschlossen, seine Anzeige über das Verfahren der citation directe zu verfolgen. Er hatte sich hierzu entschieden, nachdem der Staatsanwalt trotz Vorliegens zahlreicher Beweise missbräuchlicher Gewalt durch die Polizei und trotz der Verhängung von Disziplinarstrafen gegen einige Beamte beschlossen hatte, seine Anzeige zu archivieren. Weil Staatsanwälte häufig ihrer Pflicht nicht nachkommen, Menschenrechtsverletzungen durch Polizisten wirksam zu verfolgen, erstatten die Opfer oder ihre Familien bzw. Unterstützergruppen ihre eigene Anzeige bei einem Untersuchungsrichter. Wie schon gesagt, ermöglicht dies ihnen, als Prozesspartei am Verfahren teilzunehmen. In einigen Fällen war diese Mitwirkung entscheidend, um einen Fall entscheidigungsreif zu machen. In einem Beschluss von 2004 (siehe Abschnitt 4.) befand der Europäische Menschenrechtsgerichtshof, dass in schweren Fällen möglicher Menschenrechtsverletzungen wie Todesfällen im Gewahrsam der Begriff der wirksamen Untersuchung die Pflicht des Staates beinhaltet, die Familienangehörigen oder Partner automatisch über den Fortgang des Verfahrens zu informieren, ohne dass sie sich diesem extra als Zivilpartei anschließen müssen. Bis heute haben die französischen Behörden diese Praxis nicht verfolgt.

In einer Reihe von polizeilichen Todesschüssen und Todesfällen im Polizeigewahrsam, mit denen Amnesty International sich befasst hat, haben die Staatsanwälte vor den Schwurgerichten, wo sie als avocats généraux auftraten, sich wie Anwälte der Verteidigung gebärdet. Aber auch Staatsanwälte vor den Strafgerichten sind de facto wie das Verteidigerteam der Polizisten aufgetreten. Im Fall der Misshandlung von Yacine (5.4.), der noch nicht abgeschlossen ist und in dem das Strafgericht den Schluss gezogen hat, dass die angewandten polizeilichen Zwangsmittel das gerechtfertigte Maß weit überschreiten, hat der Staatsanwalt trotzdem Freispruch für die Polizeibeamten beantragt (5.4.). Nach dem inquisitorischen Rechtssystem ist der Staatsanwalt zwar verpflichtet, den Standpunkt des Staates und nicht den der Zivilpartei im Verfahren zu vertreten. Es gibt aber zu denken, dass die Staatsanwälte in einigen äußerst schwerwiegenden und kontroversen Fällen missbräuchlicher Polizeigewalt ganz von ihrer Rolle als Staatsanwalt abgegangen und de facto die Rolle der Verteidigung übernommen haben. Damit liegt die ganze Last der Strafverfolgung ausschließlich in den Händen des Anwalts, der im Namen der Familie auftritt, sprich der Zivilpartei.

Besonders augenfällige Beispiele für diese Erscheinung liefern Fälle wie der von Todor Bogdanovic (3.1.), den der Prozessbeobachter von Amnesty International mit den Worten kommentierte, die Entscheidung des Staatsanwalts, die Rolle des Verteidigers zu spielen, habe die Stellung des Polizisten wesentlich begünstigt und und die Wahrnehmung der Interessen der Zivilparteien und des Anwalts, der die Familie vertrat, “äußerst erschwert”. Auch im Fall von Etienne Leborgne (3.2.) wurde die Aufgabe der Strafverfolgung einer Kammer des Berufungsgerichts überlassen, während der Staatsanwalt (avocat général) am Schwurgericht laut Berichten so weit ging, die Erschießung des Taxifahrers durch die Polizei mit der “selbstmörderischen” Haltung des Taxifahrers zu rechtfertigen – ein Argument, das angesichts der näheren Umstände des Falls nur überraschen kann, und zusätzliches Unrecht, bedenkt man, dass damals keine Berufung gegen die Entscheidung des Schwurgerichts möglich war. 28 Im Fall des Todes von Mohamed Ali Saoud (4.2.), der jetzt vor dem Europäische Menschenrechtsgerichtshof anhängig ist, hat der Staatsanwalt keinen Ermittlungsrichter benachrichtigt, weshalb dieser auch erst zwei Monate nach dem Tod Untersuchungen einleitete. Im Fall des Todes von Riad Hamlaoui (3.5.), der im Jahr 2002 aus nächster Nähe von einem Polizisten erschossen wurde, während er unbewaffnet in einem Auto saß, beschloss die Staatsanwaltschaft (parquet), keine Berufung gegen die Entscheidung des Schwurgerichts einzulegen, der selbst von einem ehemaligen Minister der französischen Regierung bescheinigt wurde, das sie kaum mehr Vertrauen in die französische Justiz erzeugen werde. Die Entscheidung, den Fall nicht weiter zu verfolgen, wurde getroffen, obwohl der Staatsanwalt, der vor dem Schwurgericht als avocat général auftrat, eine sechsjährige Gefängnisstrafe beantragt hatte, um die Schwere der Tat, die er als Ausfluß einer vorsätzlichen Entscheidung einstufte, zu verdeutlichen.

In ihrem Jahresbericht 2000 wies Amnesty International auf den Widerwillen der Gerichte hin, Polizeibeamte für Gewalttaten oder unverhältnismäßige Gewaltanwendung zu bestrafen oder Urteile zu bestätigen, die der Schwere des Verbrechens gerecht wurden. “In einigen Fällen”, so schrieb die Organisation, “scheinen die Staatsanwälte aktiv dazu beigetragen haben, die faktische Straflosigkeit zu verewigen, wenn es um Polizisten ging.” Diese Aussage ist noch immer aktuell.

26 HRC Abschließende Bemerkungen, Paragraph 15

27 Abschließende Bemerkungen des Anti-Folter-Komitees: France, UN Doc. A/53/44, 27 May 1998 (im Folgenden: CAT concluding observations), Paragraphen 143(b), 146 und 147. Dies sind die neusten abschließenden Bemerkungen des CAT bezüglich Frankreichs, das im Jahr 2005 wieder auf der Tagesordnung des CAT steht.

28 Jetzt sind Berufungen gegen Geschworenengerichte zwar zulässig, sie stehen jedoch im Belieben des Staatsanwalts.

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