Sunday, May 06, 2007

 

FRANKREICH - SUCHE NACH GERECHTIGKEIT

12. Teil in der Serie
(siehe 17. April; Anfang unter: Februar 2007)

2.2.2. Ärztliche Untersuchung
Was die ärztliche Versorgung im Polizeigewahrsam betrifft, fand 1993 als Reaktion auf den Tod von Aïssa Ihich (4.1) infolge eines durch Schläge ausgelösten Asthmaanfalls eine Reform statt, die raschen Zugang zu einem Arzt sicherstellen sollte. Ein Gefangener kann verlangen, von einem durch den Staatsanwalt oder einen Beamten der Justizpolizei bestimmten Arzt untersucht zu werden. Dieses Gesuch kann im Fall der Verlängerung des Polizeigewahrsams erneuert werden. Mehrere neue Fälle haben jedoch die Probleme deutlich gemacht, die mit dem Versuch, in Polizeigewahrsam eine ärztliche Untersuchung zu erhalten, verbunden sein können. Der eben zitierte Fall von Daniel François ist einer, der von Omar Baha, einem französischen Staatsbürger algerischer Abstammung, der im Dezember 2002 festgenommen wurde, ein anderer. Omar Baha (5.7.) hatte bei einer Polizeiaktion interveniert, von der auch ein Kleinkind betroffen war. Darauf brach ihm ein Polizist mit einem Tränengasbehälter das Nasenbein.Die Anzeige, die Omar Baha im Jahr 2002 erstattete, ist immer noch vor Gericht anhängig. 24

2.2.3. Weitere Kritikpunkte am Polizeigewahrsam
Wie oben erwähnt, haben Gefangene im Polizeigewahrsam das Recht, ein Familienmitglied oder den Arbeitgeber telefonisch zu kontaktieren. Diese Bestimmung soll das Misshandlungsrisiko herabsetzen, das besonders dann besteht, wenn die Verbindungen des Gefangenen zur Außenwelt völlig abgeschnitten sind. Beamte der Justizpolizei können das Recht auf ein Telefonat jedoch verweigern, wenn er oder sie der Ansicht sind, dass dies den Gang der Ermittlungen behindert, vorausgesetzt, der Staatsanwalt stimmt zu. In einigen Fällen, von denen Amnesty International erfahren hat, darf jedoch vermutet werden, dass dieses Recht selbst dann verweigert wurde, wenn keine negativen Auswirkungen auf die Ermittlungen zu erwarten waren. So wurde im Juli 2001 ein 16-jähriger Jugendlicher namens Yacine (5.4.) 25 auf die Polizeiwache von Asnières (Region Paris) gebracht. Entgegen der gesetzlichen Bestimmungen wurde seine Mutter nicht sofort informiert, dass sich Yacine auf der Polizeiwache befand, obwohl Yacine darum gebeten hatte.

Am 11. März 2003 wurde an die Hauptquartiere der Police Nationale und der Gendarmerie Nationale sowie an den Polizeipräfekten ein ministerielles Rundschreiben versand, die materiellen Bedingungen im Polizeigewahrsam zu verbessern. Im Rundschreiben des Innenministeriums hieß es, dass Leibesvisitationen die Ausnahme sein sollten. Auch sollte für die Gefangenen verbesserter Zugang zu Telefonen und zu vertraulicher Kommunikation mit dem Anwalt geschaffen werden, und sie sollten in den Genuss warmer Mahlzeiten kommen. Die Praxis, Gefangene an Heizkörper zu fesseln, wurde kritisiert. Das CPT hat in seinem oben zitierten Bericht die Regierung aufgefordert, der Umsetzung dieses Rundschreibens hohe Priorität zuzumessen.

Allerdings ging das Rundschreiben nicht auf das problem missbräuchlicher polizeilicher Gewaltanwendung ein und wies auch nicht darauf hin, dass Beamten, die die Bestimmungen für das Polizeigewahrsam missachteten, Disziplinarstrafen drohen. Anhaltende Vorwürfe der Misshandlung im Polizeigewahrsam, wie etwa des Anwalts Alex Ursulet, der angab, im Polizeigewahrsam misshandelt und an einen Heizkörper gefesselt worden zu sein, lassen den Schluss zu, dass der “Geist” des Rundschreiben nicht weit in die polizeiliche Praxis vorgedrungen ist.

Alex Ursulet, ein Rechtsanwalt aus Martinique, wurde im Januar 2005 festgenommen, in diesem Fall aufgrund eines Verkehrsunfalls. Während seiner Haft auf der Polizeiwache in der Rue de Rivoli in Paris soll er an einen Heizkörper gefesselt worden sein. Er hat Anzeige gegen die Polizei wegen willkürlicher Haft, Körperverletzung, rassischer Diskriminierung und beleidigenden Verhaltens erstattet. Der Vorsitzende der Anwaltskammer von Paris (bâtonnier), Jean-Marie Burguburu, sprach in seinem Brief an den Innenminister, in dem er auf diesen Fall einging, von übermäßiger Gewaltanwendung (“excès de pouvoir”) durch die Polizei und ging auf die Berichte rassistischen Verhaltens ein. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Berichts führte die IGN eine interne Untersuchung durch.

Die Ansicht von Amnesty International, dass interne Richtlinien und Vorschriften ebenso wie internationale Normen laufend missachten werden, wird auch von anderen nicht-staatlichen Organisationen wie der MRAP geteilt. Die selben Spannungen, die oft überhaupt erst dazu geführt haben, dass jemand auf der Polizeiwache landet, können bewirken, dass diese Person von den Polizeibeamten mit Vorbehalt behandelt wird und ihr nicht nur medizinische Hilfe oder der Kontakt mit Angehörigen verweigert, sondern auch eine umfassende Aufklärung über ihre Rechte vorenthalten wird und die Beamten die Berichte, die in jedem Fall von Polizeigewahrsam (garde à vue) auszufüllen sind, nicht korrekt oder nicht vollständig ausfüllen. Polizeibeamte sind verpflichtet, ein Haftprotokoll (procès verbal d’audition) anzufertigen, das Informationen über die Bedingungen im Polizeigewahrsam enthält: etwa, über die Gesamtdauer des Polizeigewahrsams, über die Dauer der Verhörphasen, über die Pausenzeiten, über die Essensstunden, etc. Das Haftprotokoll muss von der im Gewahrsam befindlichen Person unterschrieben werden, bevor es abgeschlossen werden kann. Dennoch stellt dieses Haftprotokoll nicht notwendigerweise eine vollständige Darstellung der wichtigsten Fakten dar. Denn wer möglichst bald aus der Polizeihaft freikommen will, mag versucht sein, das Protokoll zu unterschreiben, ohne es gründlich durchzulesen. Auch kann ihm/ihr eine Verlängerung des Polizeigewahrsams angedroht werden, wenn er/sie Anstalten macht, die Unterschrift zu verweigern.

Solange das Polizeigewahrsam keiner ordentlichen Kontrolle untersteht, sei es aufgrund von Gleichgültigkeit, sei es aufgrund gezielter Verhinderung, kann dies eine Situation der Straflosigkeit schaffen. Das Fehlen eines ärztlichen Berichts, wenn ein Gefangener während oder nach der Festnahme verletzt wurde; ein unvollständiges Haftprotokoll über die Umstände des Polizeigewahrsams, durch das unkorrektes Verhalten unter den Tisch gekehrt wird; die Unwilligkeit mancher Beamter, von Opfern missbräuchlicher Polizeigewalt eine Anzeige gegen Kollegen entgegen zu nehmen oder die Erstattung von Gegenanzeigen, wenn jemand darauf besteht, Anzeige zu erstatten; die Behinderung von Anwälten (m/f), die versuchen, ihre berufliche Pflicht zu erfüllen – alle aufgezählten Punkte tragen dazu bei, schon zu Beginn eine richterliche Untersuchung zu behindern und machen es in der Praxis noch schwerer als in der Theorie, dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen.

24 France: The alleged ill-treatment of Omar Baha by police officers in Paris (AI Index: EUR 21/002/03, March 2003, and Amnesty International Report 2004.
25 Der vollständige Name ist AI bekannt, unterliegt aber der Vertraulichkeit.

(Quelle: France: The search for justice : The effective impunity of law enforcement officers in cases of shootings, deaths in custody or torture and ill-treatment)

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