Monday, October 01, 2007

 

* FRANKREICH - SUCHE NACH GERECHTIGKEIT

22. Teil in der Serie
(vom Original "France: The search for justice", AI Index EUR: 21/001/2005
übersetzt von Georg Warning; siehe 23. August 2007; Anfang unter: Februar)

3.2. Etienne Leborgne
Die offenkundig seltsame Situation, die dem oben zitierten Beobachter auffiel, nämlich dass der Staatsanwalt anscheinend die Rolle der Verteidigung übernahm, kennzeichnete auch den Fall des Taxifahrers aus Guadeloupe, der im Folgenden beschrieben wird. Es ist in Frankreich zwar nicht unüblich, dass Staatsanwälte gleichsam als Verteidiger von Polizeibeamten plädieren und entweder deren Freispruch oder eine rein nominelle Verurteilung fordern. Die Rolle des Staatsanwalts in solchen Fälle wirft dann aber die Frage nach der „Waffengleichheit“ zwischen Strafverfolgung und Verteidigung vor Gericht auf. Dieses Prinzip, ein wesentlicher Bestandteil des Rechts auf einen fairen Prozess, bedeutet, dass beide Prozessparteien so behandelt werden, dass während des Prozesses eine gleiche verfahrenstechnische Stellung sichergestellt ist und beide ihre Positionen gleichberechtigt darlegen können. Das heißt, dass Prozesse so geführt werden müssen, dass keine Seite gegenüber der Gegenseite wesentlich benachteiligt ist. 44

Am 6. Januar 1996 wurde Etienne Leborgne, ein Pariser Taxifahrer, der in Guadeloupe geboren ist, am Flughafen von Roissy von Polizeibeamten angehalten, die seinen Fahrtenschreiber kontrollieren wollten, aus dem erkennbar ist, wieviel Stunden täglich ein Fahrer gearbeitet hat. Beim Versuch, der Kontrolle zu entkommen, verletzte er einen Polizeibeamten, dessen Arm an der Tür verhakt war. Am 9. Januar blockierte ein Team von vier Beamten sein Fahrzeug bei Saint-Ouen (Seine-Saint-Denis), so dass er nicht mehr weiterfahren konnte. Drei Beamte stiegen aus dem Streifenwagen. Zwei rannten auf sein Auto zu und riefen “Polizei!” Etienne Leborgne, weigerte sich, aus seinem Taxi auszusteigen. Darauf trat ein Beamter das Seitenfenster auf der Fahrerseite ein und packet diesen im Nacken. Plötzlich überkam einen zweiten Beamten die Angst, dass der Fahrer „etwas in der Tasche habe“, und er gab zwei Schüsse auf den Boden ab. Dann schoss er gezielt ein drittes Mal aus einer Distanz von 10 Zentimeter durch das eingeschlagene Fenster. Die Kugel durchschlug das Gesicht von Etienne Leborgne. Der Beamte behauptete, er habe aus Notwehr (légitime défense) gehandelt, weil er in der Hand einen “schwarzen Gegenstand” gesehen und befürchtet habe, es handle sich um eine Schusswaffe. Es scheint sich dabei um eine kleine Tränengasbombe (bombe lacrymogène) gehandelt zu haben.

Die Mutter von Etienne Leborgne erstattete Anzeige gegen die Polizisten wegen Mordes und Verschwörung zum Mord, der Staatsanwalt beantragte, den Fall zu archivieren, weil die rechtlichen Voraussetzungen nicht gegeben seien (non-lieu). Er argumentierte, dass die tödliche Schussabgabe im Nachhinein zwar als unverhältnismäßig zum „Angriff“ des Fahrers erscheinen mag, dass aber der vorhergehende Vorfall bei Roissy (als ein Beamter bei seinem Fluchtversuch verletzt wurde), und die Hektik des Augenblicks zu berücksichtigen seien, in dem der Beamte legitimerweise gefürchtet haben mochte, dass er in großer Gefahr sei. Der Untersuchungsrichter war anderer Meinung. Er war darüber besorgt, dass Etienne Leborgne aus allernächster Nähe erschossen worden war. Er war auch darüber besorgt, dass der „schwarze Gegenstand“ in der Hand des Taxifahrers (die kleine Tränengasbombe) laut Angaben von Augenzeugen, darunter auch der Aussage eines anderen Beamten, keiner Schusswaffe glich. Die chambre d’accusation des Berufungsgerichts von Paris entschied im März 1998, dass genügend Beweis vorlägen, um den Beamten wegen Totschlags vor ein Schöffengericht zu stellen. In seiner Entscheidung erklärte diese Kammer des Berufungsgerichts, dass es unbestreitbar (“incontestable”) sei, dass die Schussabgabe des Beamten aus nächster Nähe unverhältnismäßig gewesen sei, und dass man selbst unter Berücksichtigung der Argumente des Staatsanwalts nicht glaubwürdig behaupten könne, dass das Leben des Beamten gefährdet gewesen sei.

Trotz dieser klar geäußerten Rechtsauffassung beantragte der Staatsanwalt (avocat général) Freispruch für den Polizeibeamten. Laut Berichten soll er gemeint haben, dass Etienne Leborgne eine selbstmörderische Haltung an den Tag gelegt habe, als er sich weigerte, den polizeilichen Anordnungen nachzukommen, und dass der Beamte daher berechtigt gewesen sei, auf ihn zu schießen. Die Schöffen stimmten dem Staatsanwalt zu und der Beamte wurde freigesprochen. Trotz des höchst kontroversen Urteils konnte die Zivilpartei in diesem Fall keine Berufung gegen den Freispruch einlegen, und könnte es nach geltender Rechtslage auch jetzt nicht. Zu bedenken gab auch, dass die Staatsanwaltschaft, als sie die Archivierung des Falls beantragte, mit dem ersten “Vorfall” bei Roissy argumentierte, obwohl nicht davon auszugehen war, dass der Todesschütze ursprünglich davon wusste.
44 Siehe beispielsweise die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Delcourt v. Belgium., Series A, No. 11 (1970); Brandstetter v. Austria, Series A, No. 211 (1991).

* Nachrichten von Europa in Kürze

Flüchtlingselend

>>Grenzkontrollen seien für die Bekämpfung der illegalen Einwanderung von besonderer Bedeutung, argumentiert das Parlament. Die Grenzkontrolle müsse unter menschenwürdigen Aufnahmebedingungen für die Personen und unter voller Achtung des Rechts auf Asyl und internationalen Schutz erfolgen, einschließlich, neben anderen Aspekten, des Grundsatzes und der Praxis der Nichtabschiebung. Die EU-Grenzschutzagentur FRONTEX spiele in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle und müsse daher mit den notwendigen Mitteln für ihre Tätigkeit ausgestattet werden.

Die Mitgliedstaaten fordert das EP auf, "gemeinsame Patrouillen" zu schaffen, die das ganze Jahr hindurch zur Grenzkontrolle eingesetzt und von Frontex koordiniert werden und in allen Regionen mit erhöhtem Risiko und besonders an den Seegrenzen operieren. [...]

Die Rettung von Leben, der Respekt der menschlichen Würde und ein solider Rechtsrahmen sollten die Prinzipien einer EU-Zuwanderungspolitik sein, so Joseph DAUL (EVP-ED, FR). Es gebe ca. 10-15 Millionen illegale Immigranten in der EU und der Umgang mit diesen müsste auf dem Respekt der Menschenwürde beruhen. Massenregularisierung könne jedoch nicht die Antwort sein.<<
- in:
Sichere Grenzen und integrierte Verwaltung der Außengrenzen
Europäisches Parlament für Einführung einer EU-Arbeitserlaubnis („Blue Card“)
Einwanderung - 26-09-2007

-siehe dazu auch in der taz:
>>EU-Patrouillen drängen afrikanische Bootsflüchtlinge schon auf dem Meer ab. Ein Gutachten von Pro Asyl und amnesty ergibt, dass dies gegen das Völkerrecht verstößt. <<
EU-Flüchtlinge - Grenzpatrouillen laut Juristen illegal von Christian Rath, 27. September 2007
-
The Independent: The callous hypocrisy of our asylum system von Nigel Morris and Ben Russell, 2. Oktober 2007

Menschenrechte im "Krieg gegen 'Terror'"

candleEurope silent on renditions

European governments take no action despite overwhelming evidence of complicity in illegal secret transfers of prisoners.

European states have aided and abetted the US-led renditions programme. They have allowed or assisted the illegal and secret transfer of people to countries where they faced torture, arbitrary detention and enforced disappearance.

This flies in the face of Europe’s commitment to respect human rights and the rule of law.

Evidence of complicity has been documented in inquiries conducted by Senator Dick Marty of the Council of Europe’s Parliamentary Assembly, by the Assembly’s Secretary General, Terry Davis, and by the European Parliament. These inquiries indicate that a number of European states co-operated with rendition flights and that dozens of terror suspects were held in secret US-run detention centres in Poland and Romania. Further information unearthed by AI, other NGOs and journalists has strengthened the case that European states have been partners in crime with the USA in the "war on terror".

Regardless of the evidence, governments in Europe, including Poland and Romania, continue to deny their involvement in renditions. Some, including the Italian and German governments, are undermining judicial and parliamentary inquiries. The behaviour of individual governments is unacceptable.

Even more shocking is the failure of Europe’s highest decision-making bodies to speak out, let alone take action, in the face of blatant illegality. Both the Committee of Ministers of the Council of Europe and the Council of the European Union have failed to condemn renditions, secret detentions, and the complicity of European governments in these human rights violations. The Committee of Ministers has yet to take any action in response to the recommendations of the Parliamentary Assembly and the proposals of its Secretary General. These recommendations are aimed at investigating what has happened, establishing accountability and ensuring that it never happens again. Such inaction is scandalous. It is a betrayal of the founding principles of the Council of Europe.

AI is calling on the Committee of Ministers of the Council of Europe to stop ignoring this critical issue. In particular, we are asking our members and supporters to send the following appeal to the Chair of the Committee of Ministers, in the belief that steps at this level would be a catalyst, encouraging member states to prevent renditions.

Please call on the Committee of Ministers to
Serbia holds the Chair of the Council of Europe Committee of Ministers until November 2007. So please send appeals to:

Vuk Jeremic
Minister of Foreign Affairs, Republic of Serbia
Chairperson, Committee of Ministers of the Council of Europe
Ministry of Foreign Affairs
24-26 Kneza Milosa St.
11000 Belgrade, Serbia
Fax: +381 11 3618-366
Email: msp@smip.sv.gov.yu

- aus: The wire October 2007 AI Index: NWS 21/009/2007
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Krieg in unseren Zeiten
>>The brutal nature of life on the front line in Iraq is illustrated by a recent case of a 24-year-old private who served there for six months. During interviews with Combat Stress staff, he described how a high-explosive round fired from a 30mm cannon went straight through an enemy soldier's chest and "obliterated" him.<<
-aus: The Independent The hidden scars of war: one in 10 British combat veterans suffers from mental illness von Andrew Johnson and Jonathan Owen, 30 September 2007

Tötlicher Gebrauch von Schusswaffen bei der Polizei

The Times berichtet vom Verfahren im Old Bailey Gericht im Tod von Jean Charles de Menezes, der am 22. Juli 2005 als vermeintlicher Terrorist mit sieben Schüssen in den Kopf in der Londoner U-Bahn von Polizisten,m die ihm gefolgt waren, getötet worden war. Hauptanklägerin Clare Montgomery, QC erhob schwere Vorwürfe von grunds&aumltzlichen Versagen (fundamental failures) gegen die Metropolitan police, das von Zimmer 1600 des New Scotland Yard aus die Aktion gegen de Menezes leitete

- Commanders 'couldn't concentrate amid chaos in control room von Sean O’Neill
- siehe auch The Guardian: Series of errors by police led to tube shooting, court told von Matthew Taylor
- The Independent: Court told of chaos and confusion that led to Menezes shooting
von Cahal Milmo
- The New York Times: London Police ‘Failures’ in Shooting von Jane Perlez

Bekämpfung von Rassismus bei der Polizeiarbeit

Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) präsentiert am Donnerstag, 4. Oktober, in Paris eine Empfehlung zur Bekämpfung von Rassismus und Rassendiskriminierung bei der Polizeiarbeit.
Press release - 633(2007) (eng)



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