Monday, July 23, 2007

 

* FRANKREICH - SUCHE NACH GERECHTIGKEIT

17. Teil in der Serie
(vom Original "France: The search for justice", AI Index EUR: 21/001/2005
übersetzt von Georg Warning; siehe 7. Juli;
Anfang unter: Februar 2007)

2.7. Die Begriffe der "Notwehr" und des "Notstands"
Wie in den meisten Rechtsystemen sieht auch das französische Strafgesetz ein Recht auf Verteidigung vor, d.h. Ausnahmen von der strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen, die sonst gesetzwidrig wären, vorausgesetzt, dass bestimmte Ausnahmebedingungen erfüllt sind. Zwei Formen dieses Rechts auf "Verteidigung" sind in diesem Kontext besonders wichtig.

2.7.1. "Notwehr" (Legitime Verteidigung, Selbstverteidigung)
Das französische Recht schreibt vor, dass bei der Anwendung von Zwangsmitteln die Mittel im Verhältnis zur Schwere der Bedrohung oder des Angriffs stehen müssen. Nach den Artikeln 122-125 des französischen Strafgesetzbuchs ist es legal, wenn eine Person sich oder Dritte gegen einen ungerechtfertigten Angriff verteidigt, solange dieser Akt für die Selbstverteidigung bzw. Verteidigung Dritter notwendig ist und zeitgleich mit dem Angriff stattfindet, vorausgesetzt, die Verhältnismäßigkeit zwischen den Mitteln der Verteidigung und der Schwere des Angriffs bleibt gewahrt.

Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit ist auch in Artikel 9 des Verhaltenskodex der Nationalpolizei (Erlass vom 18. März 1986) klar verankert. Dort heißt es: "Wenn der Polizeibeamte laut Gesetz berechtigt ist, Zwangsmittel und insbesondere Waffen einsetzen, darf er es nur tun, wenn es strikt notwendig ist und im angemessenen Verhältnis zum angestrebten Ziel steht."


Auch gilt laut Artikel 10: "Jede festgenommene Person untersteht der Verantwortung und dem Schutz der Polizei und darf keiner Gewalt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung durch einen Polizeibeamten oder eine dritte Person ausgesetzt werden." 35 Wird ein Polizeibeamter Zeuge eines solchen Vorfalls, setzt er sich einem Disziplinarverfahren aus, wenn er nichts unternimmt, um diesen zu unterbinden bzw. die zuständige Stelle darauf aufmerksam zu machen.


Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit gilt allerdings nicht für militärische Offiziere der Gendarmerie nationale (siehe 2.8. unten).


Ein französisches Handbuch für Polizeiausbildung erklärt klipp und klar: "Wenn für einen Polizisten auch nur die geringste Möglichkeit besteht, ohne Folgen für sich oder für Dritte ... einem illegalen Angriff .. auszuweichen, hat er diese Lösung zu wählen, statt seine Waffe zu gebrauchen. Wenn z.B. ein Fahrzeug absichtlich auf den Beamten zusteuert und er die Zeit hat und körperlich in der Lage ist, auszuweichen..., sollte er das tun und nicht die Waffe einsetzen. Wenn das Fahrzeug vorbeigefahren ist, ist das Kriterium für legitime Verteidigung nicht mehr gegeben, der Einsatz der Schusswaffe durch den Beamten ist dann verboten." 36 Diese Bestimmung entspricht den internationalen Normen für Beamte mit Polizeibefugnissen beim Einsatz von Zwangsmitteln im Allgemeinen und von Schusswaffen im Besonderen (siehe unten).


2.7.2. "Notstand"
Laut Artikel 122-7 des französischen Strafgesetzbuchs gilt:

"Wer einer gegenwärtigen oder unmittelbaren Gefahr für sich selbst, für eine andere Person oder für das Eigentum ausgesetzt ist, ist strafrechtlich nicht verantwortlich, wenn er eine notwendige Maßnahme ergreift, um die Sicherheit der Person oder des Eigentums zu gewähren, außer wenn die angewandten Mittel außer Verhältnis zur Schwere der Gefahr stehen."

Diese Art von Schutzmaßnahme unterscheidet sich von der "Notwehr" dadurch, dass die Gefahr nicht notwendigerweise vom Angriff einer dritten Person ausgehen muss, sondern auch durch ein Zusammentreffen verschiedener Umstände zustande kommen kann. Wenn etwa ein Feuerwehrmann oder eine Privatperson in eine Privatwohnung eindringt, um die Bewohner aus den Flammen zu retten, soll der "Notstand" ihn vor strafrechtlicher Verantwortung wegen Einbruchs, Beschädigung fremden Eigentums etc. schützen.

2.7.3. Missbrauch der Begriffe
Amnesty International ist besorgt, dass Schutzregeln wie "Notwehr" und "Notstand" in Fällen, in denen französische Polizisten Gewalt angewandt haben, ausgiebig missbraucht werden. Beide Ausnahmeregeln werden fast ausnahmslos dann herangezogen, wenn Polizeibeamten wegen Mordes oder Totschlags oder anderer Verbrechen angeklagt werden, und wurden häufig von den Gerichten übernommen, selbst wenn die Umstände deutlich machten, dass der Einsatz der Zwangsmittel durch den Polizeibeamten unnötig, leichtfertig oder unverhältnismäßig war.

Einge in Abschnitt 3 (siehe unten) zitierte Fälle endeten mit kontroversen Freisprüchen, kontrovers nicht nur vom Standpunkt der Rechtsanwälte, Menschenrechtsgruppen oder Angehörigen der Betroffenen, sondern auch in dem Sinn, dass beim Gang durch die Instanzen ganz unterschiedliche Urteile gefällt wurden. Entscheidend in solchen Fällen war die Frage der Auslegung des Arguments der "Notwehr" oder des "Notstands". Dies hat mitunter zu bizarren Argumenten zugunsten der betroffenen Polizisten geführt. Dabei wirkte sich das Prinzip des (oft erheblichen) Zweifels für den Angeklagten meist zugunsten der Polizisten aus. So haben Staatsanwälte argumentiert, dass das Opfer eine "selbstmörderische" Haltung an den Tag gelegt habe (siehe den Fall von Etienne Leborgne); oder dass eine Verurteilung des Beamten seine Handlung künstlich in Einzelschritte aufsplitte (Todor Bogdanovic). Weitere Beispiele folgen unten. Darunter ist auch der Fall von Mohamed Ali Saoud, der langsam im polizeilichen Zwangsgriff erstickte. In diesem Fall argumentierte das Gericht, die Polizisten hätten in "Notwehr" gehandelt und seien folglich strafrechtlich nicht zu belangen. Dabei war der Tod nachweislich erst 15 Minuten oder mehr nach Einsatz der Zwangsmittel erfolgt, als dem Opfer schon Handschellen und Fußfesseln angelegt worden waren. Trotzdem drückten ihn die Beamten noch immer nieder, wodurch er schließlich erstickte.


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35 Code de déontologie de la police nationale, Verhaltenskodex der Nationalpolizei, Artikel 9: "Lorsqu'il est autorisé par la loi à utiliser la force et, en particulier, à se servir de ses armes, le fonctionnaire de police ne peut en faire qu'un usage strictement nécessaire et proportionné au but à atteindre."

Artikel 10: "Toute personne appréhendée est placée sous la responsabilité et la protection de la police; elle ne doit subir, de la part des fonctionnaires de police ou de tiers, aucune violence ni aucun traitement inhuman ou dégradant."
36 Gestes et techniques professionels d'intervention - Direction du personnel et de la formation de la police, Ministère de l'intérieur et de l'aménagement du territoire.

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